Jeder braucht einen Freund

Da sagte die freundliche Stimme: «Du brauchst nur eine gute Erfahrung, einen Freund zum Beispiel, der sich nicht von dir abwendet.»

Ein Märchen für Gross und Klein

Es war einmal ein Bär, gross und stark. Die anderen Tiere mieden ihn, weil sie Angst hatten, und so blieb der Bär allein. Dies machte ihn traurig, und er wünschte sich, nicht mehr gross und nicht mehr stark zu sein – er wünschte sich, nicht mehr ein Bär zu sein. Nach solchen Gedanken fühlte sich der Bär noch einsamer. Er verstand aber nicht, warum das so ist, dass er sich jetzt sogar noch mehr abseits fühlte, nachdem er sich gewünscht hatte, mehr so zu sein, wie die anderen Tiere ihn vielleicht mögen würden.

So fragte er laut: «Warum?»

Und eine Stimme antwortete: «Weil du dich bereits von den anderen verlassen gefühlt hast, und nun hast du dich auch noch selber verlassen.»

Der Bär schwieg eine Weile. In seinem Herzen wusste er, dass die Stimme recht hatte. Aber woher wusste sie das? Und wem gehörte diese Stimme?

Doch der Bär fragte nur: «Was muss ich tun, um wieder glücklich sein zu können?»

Da sagte die freundliche Stimme: «Du brauchst nur eine gute Erfahrung, einen Freund zum Beispiel, der sich nicht von dir abwendet.»

«Aber wo finde ich einen solchen Freund?», fragte der Bär.

Und er hörte die Stimme sagen: «Auf deiner linken Schulter, direkt oberhalb deines Herzens.»

Der Bär drehte seinen Kopf. Und da sah er ihn, den kleinen Käfer, der es auf seinem Fell gemütlich zu haben schien. Er war rundlich und auf seinem roten Kleid prangten schwarze Punkte. Obwohl der Käfer klein und sein Gesicht geradezu winzig war, meinte der Bär ein Lächeln erkennen zu können.

Der Bar wollte etwas sagen. Oder eine der vielen Fragen aussprechen, die gerade in seinem Kopf Purzelbäume schlugen. Doch seine Stimme versagte. Und in der entstandenen Ruhe übernahm sein Herz und schickte einen Dank an den kleinen Käfer.

*

Etwas hilflos sass er da. Die unvollendete Geschichte lag seit Tagen auf dem Tisch. Und auch in diesem Moment ruhte der Stift vergessen in des Autors Hand. Autor? Nein, als solchen fühlte er sich weniger denn je. Wieso kam er in der Geschichte nicht weiter? Bisher war es einfach geflossen, wie immer, wenn er in eine Geschichte eintauchte. Es begann jeweils mit einem Bild, das plötzlich vor seinem geistigen Auge auftauchte, zu klar, um es beiseiteschieben zu können. Dann folgte stets das warme Gefühl, das sich in seinem Herzen ausbreitete. Und in diesem Berührtsein fanden die Dinge beinahe von allein ins Wort.

In diesem Moment ging die Türe auf und holte den Mann zurück ins Hier. «Schreibst du an deiner Geschichte, Papi?», erklang die liebliche Stimme seiner Tochter. «Nun, ja... ich wollte, aber...», stammelte er. Sogar hier schien es ihm nicht gelingen zu wollen, die richtigen Worte zu finden.

«Aber Papi, es kommt doch ein Sturm. Wie immer, wenn die Menschen nicht weiterwissen, nicht im Gleichgewicht sind, braucht es die Natur. Und die anderen Tiere werden froh sein, einen grossen und starken Bären in ihrem Wald zu wissen».

Wirklich? Wie gelang ihr das, frage sich der Autor, der in diesem Moment einfach ein berührter Vater war. Woher nahm sie diese Klarheit? Es war weniger eine unausgesprochene Frage als ein Gefühl der Dankbarkeit in der eingetretenen Stille.

*

Der Bär nahm die Veränderung wahr, noch bevor der Windstoss durch sein Fell fuhr. Kaum hatte der Käfer in der Tiefe des Pelzes Schutz gefunden, erhob sich der Wind lautstark mit stürmischen Böen, die durch die Bäume fegten, das welke Laub vom vergangenen Jahr zu tanzenden Wesen aufwirbelten und erste dürre Äste mit sich rissen.

Ganz in der Nähe versuchte der Fuchs vergeblich für Ruhe in der aufgebrachten Menge zu sorgen. Alle Tiere riefen durcheinander. Stimmen, die sich überschlugen, Ausrufe, die mitten im Satz abbrachen. Doch es waren die weit aufgerissenen Augen, die wortlos das zum Ausdruck brachten, worum es wirklich ging: die Tiere hatten Angst. Angst um ihre Lieben, sich selbst und ihr zuhause. Meister Reineke fühlte sich hilflos und nicht als der Anführer, zu dem ihn die Waldbewohner seiner Schlauheit wegen erkoren hatten. Wenn ihm doch bloss ein Freund beistehen würde!

Eine nächste Welle der Panik ergriff die Tiere, doch mit einem lauten Knall brachte die grosse Eiche die Menge zum Schweigen. Sie gab dafür einen Teil ihrer schön gewachsenen Krone her, welche die anderen Baumwipfel überragte und im Sommer angenehm kühlen Schatten spendete. Die Tiere standen wie angewurzelt um den grossen, herabgefallenen Ast ihres liebsten Baumes. Sie waren nicht einfach im Schrecken erstarrt, sondern verstanden, dass ihnen der Hüter des Platzes etwas sagen wollte.

«Ich werde euch helfen!»

Mit offenen Mäulern und Schnäbeln hoben sie ihre Köpfe. Hatte etwa die Eiche eben zu ihnen gesprochen?

«Ihr könnt in meiner Höhle Schutz finden.»

Höhle? Welche Höhle? Die Tiere wussten, dass ihre alte Verbündete über viele, teils verborgene Qualitäten verfügte. Aber eine Höhle in der Eiche?

«Folgt mir einfach, ich werde den Weg bis zu meiner sicheren Höhle für euch freiräumen.» Erst jetzt bemerkten sie den Bären, der neben ihnen stand. Gross und stark, wie er war, fühlten sich die Tiere augenblicklich sicher. Und als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, folgten sie Meister Petz, welcher abgebrochene Äste wegräumte und die Stämme umgestürzter Bäume anhob, so dass Klein und Gross ihren Weg in die Geborgenheit seiner Höhle fanden.

Die Sonne schickte ihre wärmenden Strahlen zu ihren Erdenkindern, und die Vögel würdigten dies mit ihren schönsten Klängen und Liedern. Begleitet von so viel Liebe richteten die Tiere ihre Behausungen wieder her. Ein jedes half dem anderen, brachte seine eigene, ganz persönliche Stärke in dieses grosse Miteinander ein. Und immer wieder wurde der Bär freundlich um Hilfe gebeten, wenn es einen besonders schweren Stein anzuheben oder ein hochgelegenes Nest an seinen ursprünglichen Platz zu bewegen galt.

«Siehst du, sie lieben dich. Nicht trotz deiner Kraft und Grösse, sondern mit diesen, deinen Eigenschaften. Weil du bist, wer du bist. Du bist der Bär, und niemand sonst kann das sein.»

Der Bär dankte in seinem Herzen für den Freund, den er gefunden hatte. Und der Käfer verstand.

«Es ist so viel Liebe da. Man braucht sich ihr nur zu öffnen», sagte sich Meister Petz. Und die Eiche verstand. Ebenso Vater Sonne und Mutter Erde.

*

Ja, dachte der Mann mit einem zufriedenen Lächeln, da ist sie, die Geschichte, von der ich nur den Anfang greifen konnte. Gehört es nicht zur Liebe, dass es Dinge gibt, die wir nicht allein schaffen?

«Ich danke dir, meine Liebe», flüsterte der Mann so leise, dass man es nur mit dem Herzen hören konnte. Und er legte den Stift beiseite.

 

***

Diese Geschichte ist dir, meine grosse Kleine, gewidmet. Und mögest du deine Liebe zu Geschichten bewahren. Und zu den Menschen – und dem Wald und seinen und seinem Wesen.

 

Copyright © 2020 / 2023 Pascal Leresche, Uster

 

#Liebe
#Ressourcen
#AngstNichtGeliebtZuWerden
#AngstSichZuZeigen

Blogbeitrag als PDF speichern

© 2025 Hypnose Leresche, Uster - Impressum | Datenschutz