Eine Geschichte aus zwei Zeiten
Ein fröhliches Glucksen holte Alexander zurück in die Gegenwart und die Schalterhalle des Stadthauses. Eine ältere Dame hatte aus einem der am Boden verstreuten Flyern für Simona ein Schiffchen gefaltet. Die Beiden lächelten. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern gab Alexander die Antwort: Er hatte sich damals für die Liebe entschieden. Die Liebe zu seinen ungeborenen Kindern, die Liebe zu sich - und die Liebe zu allen Menschen und ihren Geschichten.
Ben
Es war wieder so weit. Die Vorstellung, dem, was kam, den Rücken zuzuwenden, liess ein Gefühl der Panik in ihm hochsteigen. Und so lag Ben in seinem Bett, den Blick nach oben gerichtet. Natürlich konnte er nichts erkennen in dieser vollkommenen Dunkelheit. Dennoch, es vermittelte ihm ein Gefühl der Sicherheit, seinen Blick auf das zu halten, was kommen würde. Einen Ansatz von Sicherheit.
Dann spürte er es. Wie immer begann es in der Mitte seines Rumpfes. Seine Mutter hätte ihn aufklären können, dass dies der Solarplexus sei. Aber auch sie hätte den Druck, der sich im Sonnengeflecht aufzubauen begann, nicht mindern können. Es tat nicht direkt weh, doch es hätte ihm die Luft genommen, hätte er nicht längst vergessen zu atmen.
Ben nahm wahr, dass es nun direkt über ihm war. Er konnte das blasenartige Gebilde nicht sehen, aber deutlich spüren. Und er kannte es. Das Vakuum, dass sich darin befand, machte ihm immer wieder aufs Neue Angst. Und auch wenn Ben es schon viele Male erlebt hatte, dass in dem Moment, in dem die Blase ihn berührte, eine Leere in seinen Körper drang und sich auszubreiten begann – es vermochte nichts von dem Schrecken des Augenblicks zu nehmen. Das Gefühl, sich nicht mehr zu spüren, sich selbst zu verlieren, war einfach zu gewaltig. Jahrzehntelang noch würde Ben unter Verlustängsten leiden.
«Stahn uf, stahn uf, s’Sünneli schiint scho...»
Die Stimme seiner Mutter holte Ben von weit her zurück in sein Kinderzimmer. Er drehte sich aus der Bauchlage auf den Rücken und begann sich zu recken und zu strecken, so wie dies Kinder zu tun pflegen. Und Katzen. Er hörte das sonore Miauen von Schnurrli noch bevor er seinen liebsten Buddy sah. Denn das grelle Sonnenlicht, das die Mutter mit dem Öffnen der Fensterläden ins Zimmer fluten liess, veranlasste Ben dazu, die Bettdecke über den Kopf zu ziehen. Er wollte sich noch einen Moment schenken. Einen Moment noch, bevor er sich aus dem Bett schälte und dem Schulalltag übergab. Denn wie so oft in den vergangenen Tagen, fühlte sich Ben morgens kaum ausgeruht.
Ben wusste in diesem Moment nichts mehr von dem Schrecken des vergangenen Abends. Er hätte auch nicht sagen können, ob es ein Albtraum oder real gewesen war. In seinem Unbewussten hingegen war der Schrecken unwiderruflich abgespeichert. Und wenn Ben sich am nächsten Abend in sein Bett legen wird, würde alles von Neuem beginnen. Für Ben würde es sich vertraut anfühlen, ohne dass er es einordnen könnte. Er würde nicht wissen, dass es sich um einen Schock handelte. Auch könnte Ben die Signatur des Schocks nicht deuten: das Gefühl des absoluten Ausgeliefertseins und die damit verbundene Todesangst. Und so würde es sich weiterhin seinem Bewusstsein entziehen, dass all dies Ausdruck war von den dem Schock zugrundliegenden Ereignissen: den Übergriffen.
Hätte Ben an diesem sonnigen Dienstag aus dem Fenster geschaut, wäre sein Blick am Jugendkulturhaus Dynamo vorbei und auf den Platzspitz gefallen. Die Limmat, die in tiefem Grün ruhig vor der schön gelegenen Parkanlage mit den hochgewachsenen Platanen dahinfloss, täuschte eine Idylle vor, die längst einem weiteren Schrecken gewichen war. Über die offene Drogenszene wurde die ganze Bandbreite des Elends und der Sucht sichtbar. Doch der Alltag ringsum setze sich in grausamer Gleichgültigkeit fort. Männer und Frauen eilten an dem verschlossenen Parkgatter vorbei zu ihren Arbeitsplätzen, Touristen besuchten das an den Platzspitz angrenzende Museum, und die Enten schnatterten fröhlich auf dem trägen Fluss. Der kleinen Weltstadt schien es gelungen zu sein, von dem offenkundigen Schrecken abzulenken und ihre Maske zu wahren. Und da, wo die Ablenkung fehlschlug und die Abwehrmechanismen versagten, die Menschen also nicht umhinkamen, dem Offenkundigen ins Auge zu blicken, da waren sie überfordert; überfordert im Umgang mit den Ereignissen, weil sie hartnäckig ihre Energie darauf verwendeten, doch noch einen Weg zu finden, darüber hinwegschauen und jeglicher Verantwortung entfliehen zu können. Jahre später würde kaum jemand mehr verstehen können, wie es so weit kommen konnte. Ben stand nicht an seinem Fenster, doch auch wenn er all dies hätte erkennen können, so wäre er dennoch nicht in der Lage gewesen zu verstehen, dass in seinem zuhause - seiner Welt - ähnliche Mechanismen der Verleugnung und Verdrängung am Wirken waren. Der im Unbewussten der Menschen platzierte Selbstschutz segnete nicht nur Ben mit dem Schleier des Vergessens.
Alexander
Alexander schaute in den Spiegel. Etwas überrascht taxierte er, dass ihm das vertraute Gesicht entgegenblickt. Beinahe hätte er erwartet das Monster zu sehen, als das er sich in diesem Augenblick fühlte. Einzig in seinen Augen war etwas zu erahnen, was ihn an das eben Geschehene erinnerte. Plötzlich packte ihn die Wut, die sich aus toxischen Gefühlen von Schuld und Neid emporhob. Warum?! Warum konnte er nicht wie die anderen sein?
Wie hatte er dies nur tun können? Dieses Kind... es hatte doch niemandem was getan... es war... es war ein Kind... Es war unschuldig! Ganz anders als er, Alexander, und all die anderen Täter. Viele Jahre seines Lebens hatte Alexander nichts als Verachtung gegenüber jenen empfunden, die Kindern gegenüber übergriffig waren und diese gar sexuell ausbeuteten. Es überstieg schlicht seine Vorstellungskraft, wie jemand diese Unschuld mit Füssen treten, ja zerstören konnte. Krank müssen diese Täter sein, klangen seine Worte in jener Zeit, die Alexander in diesem Augenblick so weit zurückzuliegen schien. Und nun... nun gehörte er dazu. Die Verzweiflung, dass diese Täterenergien ihren Weg in sein Inneres gefunden hatten, wurde nur von seinem Selbsthass übertrumpft. Dann wieder konnten seine Gefühle plötzlich in Selbstmitleid umschlagen, wenn sich die Angst vor Bestrafung seiner bemächtige. Und die Angst, dass ihn seine Frau verlassen würde. Zu Recht, wie er tief im Innern empfand. In solchen Augenblicken zerbrach Alexanders ganze Welt vor seinem geistigen Auge, er verlor einfach alles. Die Frau, die er so sehr liebte, die Kinder, die er mit ihr haben wollte, die Aussicht darauf, jemals glücklich zu sein.
So einsam hatte sich Alexander noch nie gefühlt. All seine Aufmerksamkeit war an dieses Geschehen gebunden, während die Menschen ringsum einfach ihren Alltag lebten. Wie gerne hätte er mit ihnen gelacht. Wie gerne hätte er sogar die Sorge jener geteilt, die mit dem sich schliessenden Zyklus im Kalender der Maya das Ende für die Menschheit fürchteten. Doch er konnte die Ängste dieser apokalyptischen Strömung nicht nachvollziehen, denn er, Alexander, hatte Sorgen, die real waren.
Läuterung
Alexander ging den Kiesweg entlang. Um zu seinem Auto zu gelangen, hätte er in Richtung Bahnhof Oberrieden abbiegen müssen. Doch es zog ihn noch nicht nach Hause, und so folgte er dem Pfad, der den Gleisen entlang über ein Brachland führte. Es war ihm wichtig, seine Gedanken etwas ordnen zu können. Und vor allem wollte er noch in diesem Gefühl der Ruhe weilen. Es war das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass Alexander so etwas wie Frieden in sich wahrnahm.
Es hatte ihn viel Mut gekostet, sich mit seinem Thema einem Therapeuten anzuvertrauen. Davon zu erzählen, dass er plötzlich eines Tages den Drang in sich spürte, kinderpornographisches Material zu konsumieren. Er konnte sich das damals nicht erklären, dass diese Energie – Täterenergie, wie er sie nannte – aus dem Nichts auftauchte und ihn übermannte. Es forderte ihn Courage, von seiner Scham zu erzählen, diesem Drang nicht standgehalten zu haben. Ja, es hatte ihn unendlich viel Mut gekostet. Doch noch schwieriger war es gewesen, ein weiteres Hindernis zu überwinden: Alexander war an diesem Punkt schon derart von Selbsthass zerfressen, dass er davon überzeugt war, es nicht verdient zu haben, geläutert zu werden – und glücklich zu sein.
Die Veränderung in ihm begann mit einem ersten Schritt. Vielleicht war es dem kleinen Buch geschuldet, welches ihm in die Hände gefallen war, dass er es wagte, sich zu zeigen und Hilfe zu suchen. Eine Schrift über ein altes hawaiianisches Vergebungsritual. In diesem, so lernte Alexander, übernahm man Verantwortung, indem man jene, die schreckliche Taten vollbrachten, um Vergebung bat. Es dauerte eine Weile, bis er die Offenheit hatte zu verstehen: wir alle hatten Gefühle und Muster in uns, die aus Prägungen in unserem Leben, unserer Kindheit entstanden sind. Und dass die schweren Gefühle und die destruktiven Muster das Potential für schlimme Taten in sich bargen. Den meisten war es vergönnt, nicht in diese Taten zu gehen, nicht Täter zu werden; nicht, weil sie aus eigener Errungenschaft besonders gut oder stark waren, sondern weil es gleichzeitig genügend positive Erlebnisse und Ressourcen in ihrem Leben gab. Andere hatten nicht dieses Glück. Und sie lebten und manifestierten diese Aspekte, welche wir alle in uns tragen. Diese Menschen im Geiste um Vergebung zu bitten, half Alexander zwischen Tat und Mensch zu unterscheiden. Und er lernte, eine Handlung zu missbilligen und zugleich den Menschen und seine Geschichte zu würdigen – und sich nicht über andere zu stellen. Der Grossteil seiner Freunde, mit denen er sich darüber austauschte, konnte eine solche Haltung weder nachvollziehen noch akzeptieren. Sie beriefen sich auf den Standpunkt, dass alle Menschen eine Wahl hätten, und sich die Guten durch die richtige Wahl hervortaten. Doch Alexander hatte in seinem Herzen verstanden, dass er nicht wissen konnte, wie es sich anfühlt jemand anders und in dessen Geschichte unterwegs zu sein. Und dass es mehr gab als Gut und Böse. Er war überzeugt, dass es wichtig war, dass ein jeder Verantwortung für seine Handlungen übernahm. Mittlerweile erahnte er, dass es hingegen nicht hinreichend war, über Taten zu urteilen. Das wirkliche Auflösen von Prägungen, davon war er inzwischen überzeugt, geschieht, indem man sich seiner Geschichte annimmt und versucht, in Frieden zu gehen. All das half Alexander, Verantwortung für seine Gefühle und Handlungen zu übernehmen; wirklich Verantwortung zu übernehmen, vielleicht das erste Mal in seinem Leben. Eines Tages vielleicht würde er sich vergeben können – und sich wieder lieben.
Ja, er würde diesen Weg weiter gehen, auch wenn er schmerzhaft war, und lang. Auch wenn dieser ihn in die Schattentäler seiner Kindheit führen würde. Ja, er würde noch manches Mal nach Oberrieden fahren...
Die dritte Zeit
Mit einem Schmunzeln beobachtete der Vater, wie seine Tochter sich am Prospektständer emporzog. Diese konnte zwar erste, einzelne Schritte gehen, doch sie stand noch immer wacklig auf ihren Kinderbeinen. Die kleinen Hände tasteten sich vor und erwischten die ersten Faltflyer, die, kaum aus der Halterung gezogen, Papierfliegern gleich zu Boden glitten. Ob er als Vater eingreifen und diesem Spiel ein Ende bereiten sollte? Die Liebe zu seiner Tochter siegte über die Vernunft, und der Mann verwarf den Gedanken wieder. Er gönnte der Kleinen ihr Spiel und würde danach wieder Ordnung schaffen.
Sein Blick löste sich von dem Schauspiel und richtete sich wieder auf das Formular, das er auszufüllen im Begriff war. Vorname des Kindes? Simona Bella. Den Namen hatte seine Frau ausgesucht. Für ihn fühlte er sich stimmig an; ihm war damals vor allem wichtig gewesen, dass seine Tochter einen zweiten Vornamen hatte, so wie er selbst. Vorname des Vaters oder Erziehungsberechtigten? Er trug Benjamin Alexander ein, seinen vollen Namen. Benjamin. Ben. Lange hatte er diesen Namen nicht mehr präsent gehabt...
Für einen Augenblick trug ihn die Erinnerung zurück in die Tage seiner Kindheit. An jenen Ort, den er zuhause nennen sollte. Doch das fühlte sich falsch an, denn es hatte ihm all das genommen, was er mit einem zuhause verband: Liebe, Geborgenheit und Schutz. Aber er hatte es überstanden, hatte die Kindheit überlebt, die Jahre seiner Jugend ausgehalten und war, kaum hatte er die Rekrutenschule absolviert, ausgezogen in dem Versuch, in einer eigenen Wohnung fern seines Heimatortes ein zuhause finden zu können. Es war jene Zeit gewesen, da er den Namen seiner Kindheits- und Jugendjahre abgelegt und sich nur noch Alexander genannt hatte. Das Kapitel Ben war damit beendet, dachte er damals. Bis ihn fünfzehn Jahre später seine eigene Geschichte einholte, und er mit der Entscheidung konfrontiert war, ob er sich seinen Dämonen zu stellen bereit war. Ob er bereit war, Alexander und dessen Bürde von Schuld und Scham zu begegnen. Und letztlich Ben und dessen tiefgreifendem Trauma.
Ein fröhliches Glucksen holte Alexander zurück in die Gegenwart und die Schalterhalle des Stadthauses. Eine ältere Dame hatte aus einem der am Boden verstreuten Flyern für Simona ein Schiffchen gefaltet. Die Beiden lächelten. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern gab Alexander die Antwort: Er hatte sich damals für die Liebe entschieden. Die Liebe zu seinen ungeborenen Kindern, die Liebe zu sich - und die Liebe zu allen Menschen und ihren Geschichten.
Nachspüren
Darf ich diesen Text so veröffentlichen? Wie wird man - Mann und Frau - darauf reagieren? Könnte diese Geschichte jemanden verletzen? Läuft dies zu sehr den geltenden Strömungen und Konventionen unserer Gesellschaft zuwider, und wird damit folglich ein Tabu gebrochen?
Natürlich habe ich mir diese Frage gestellt, wiederholt. Letztlich habe ich gelernt, dass Menschen zuweilen heftig auf gänzlich neue Sichtweisen reagieren können; dass ein und dasselbe eine vollkommen unterschiedliche Reaktion auslösen kann, abhängig davon, welche eigene Geschichte die betreffende Person mit sich bringt. Aber ich habe auch gelernt, den Menschen zu vertrauen. Und der Liebe.
Fachlich betrachtet taucht mit dieser Geschichte der Begriff der Opfer-Täter-Transition auf, welche beschreibt, dass eigene Opfererfahrungen die spätere Gewaltausübung begünstigen. Solche Prozesse wurden in den 70er Jahren von dem britischen Kinderarzt, Kinderpsychiater und Psychoanalytiker John Bowlby in seiner Bindungstheorie untersucht (John Bowlby: Attachment-Theorie, 1973).
Diese Ausführungen geniessen eine breite Anerkennung und werden auch von jüngeren kriminaltechnischen Auswertungen gestützt, welche empirisch den Zusammenhang von ausgeübter Gewalt mit früheren, eigenen Erfahrungen als Opfer belegen. Präventionsempfehlungen sollen, so die dringende Empfehlung der Autoren einer dieser Studien, die Täter-Opfer-Transition berücksichtigen. So sei die Prävention vor Opferschaft zugleich auch Prävention vor Täterschaft und Täterprävention könne immer auch als Prävention vor Opferschaft angesehen werden (Dirk Baier, Christian Pfeiffer: Jugendliche als Opfer und Täter von Gewalt in Berlin, 2011).
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