In den Schuhen meines Vaters – oder die Geschichte von Giulia (Teil 1)

Kaum hatte sie die Türe geschlossen und den Wagen gestartet kam ein Gefühl der Panik in ihr hoch. Normalerweise löste das tiefe Brummen des Motors ein Wohlgefühl in ihr aus, denn es verhiess Freiheit. Erinnerungen an schnelle Fahrten über schöne Alpenpässe dringen in ihr Bewusstsein, vielleicht ein Bild von ihr selbst in ihrem narzissengelben Fiat Cinquecento, das Lenkrad fest im Griff und das Leben unter Kontrolle. Doch nicht dieses Mal. Da war nur noch pure Angst.

Die Entscheidung

Die Geschichte von Giulia nahm ihren Anfang weit vor ihrer Geburt, und ein überbewusster Anteil von Giulia würde dies erfassen, ähnlich einem Adler, der hoch im Himmel seine Kreise zieht und erkennt, dass das, was dereinst als Fluss durch die Landschaft fliesst, seinen Ursprung in mehreren Wasserläufen hat. Und dass jeder dieser Wasserläufe seinerseits erst durch das Zusammentreffen und Vereinen von verschiedenen kleineren Flüssen und Bächen entstanden ist. Und jener, der versuchen würde, die eigentliche Quelle ausfindig zu machen, würde sich mit Naturnotwendigkeit in der Tiefe dieser Landschaft verlieren. Wir verlassen nun aber die Vogelperspektive und tauchen in die Geschichte ein, einige Monate, nachdem das kleine Wesen das Licht der Welt erblickt hatte.

Giulia ist ein lebensfrohes Mädchen, das bei ihrer Grossmutter aufwächst. Die Mutter, noch eine Teenagerin, fühlte sich nicht in der Lage, die ihr zugeteilte Rolle einzunehmen. Sie hätte hierin auch wenig Unterstützung erfahren. Damit wären wir natürlich bei Giulias Vater und der Frage: War dieser ein gewissenhafter Mann oder drückte er sich davor, Verantwortung zu übernehmen? Man kann sagen beides: Er war überaus gewissenhaft, was die Umsetzung seiner eigenen Pläne in seinem ebenfalls noch jungen Leben anbelangte. Und er wich sämtlicher Verantwortung für sein Kind aus, denn die Übernahme von Vaterpflichten war in seinen Plänen nicht vorgesehen.

Nun brauchte ein Kind aber elterliche Fürsorge. Da der Vater von der Bildfläche verschwunden war, ist diese Aufgabe an der Mutter hängen geblieben. Diese entsann sich glücklicherweise in einem lichten Moment, dass sie in ihrer eigenen Kindheit selbst durchaus in die Gunst mütterlicher Liebe gekommen war. Diese Erinnerung schmeckte süss, denn sie bot ihr zugleich die Gelegenheit, die ihr zugedachte Verantwortung an ihre eigene Mutter, Giulias Grossmutter, zu übertragen. Und bevor sich das Ausmass der Folgen eines solchen Rollentauschs in ihr Bewusstsein dringen konnte, war die Sache bereits entschieden. 

Giulia erlebte eine schöne Kindheit bei ihrer Grossmutter, die sie, mit der natürlichen Selbstverständlichkeit eines Kindes, einfach Mami nannte. Ihr schien es an nichts zu fehlen, und sie kannte ja auch nichts anderes als dieses Leben, das sie mit ihren «Geschwistern» – eigentlich den Onkel und Tanten – führte. So würde Giulia die Geschichte erzählen.

Viele Jahre später

Giulia war zu einer lebensfrohen und allseits geschätzten jungen Frau herangewachsen – und ihr Leben sollte bald eine plötzliche Kehrtwendung erfahren.

Giulia stand am Beginn einer Partnerschaft und sah sich mit grossen Verantwortungen konfrontiert. Ihr Freund hatte das, was man eine grosse Bürde bezeichnen kann; eine schwierige Geschichte, die ihn direkt in die Drogensucht und Arbeitslosigkeit hineinführte. Nicht fähig, Verantwortung für sich und sein Leben zu übernehmen, überliess er all das Giulia, welche, gestärkt durch ihre eigene und glückliche Kindheit, den vom ebenfalls süchtigen Vater auf die Strasse gesetzten Freund aufnahm. Sie führte ihn aus der Welt der Drogen und Straftaten in ein geregeltes Leben mit Job und gemeinsamer Wohnung. Dabei legte Giulia jene Beharrlichkeit und Pflichtgefühle zutage, welche ihre Vorgesetzten und Mitarbeitenden in der Berufswelt von ihr kannten und an ihr schätzten. Denn, wann immer «Not am Mann» war, konnte man sich auf Giulia verlassen. Nie liess sie jemanden im Stich oder eine Arbeit unerledigt, stets war das von ihr Geleistete von ihrem Perfektionsanspruch geprägt.

Und dann brach alles zusammen. Burn-out lautete die Diagnose ihres Hausarztes, den sie aufgrund ihrer Antriebslosigkeit aufgesucht hatte. Diese grenzte an Lethargie grenzte und zeigte sich gleichermassen körperlich wie geistig. Bald folgten, wie so oft, die Angstzustände. Den Zusammenhang zwischen Burn-out und Ängsten sollte Giulia erst später verstehen, doch fühlen konnte sie es in dem Moment, als sie sich in der Tiefgarage ihres Wohnblockes in ihren narzissengelben Fiat Cinquecento setze. Ein Gefühl der Panik kam in ihr hoch, kaum hatte sie die Türe geschlossen und den Wagen gestartet. Normalerweise löste das tiefe Brummen des Motors ein Wohlgefühl in ihr aus, denn es verhiess Freiheit. Erinnerungen an schnelle Fahrten über schöne Alpenpässe dringen in ihr Bewusstsein, vielleicht ein Bild von ihr selbst, das Lenkrad fest im Griff und das Leben unter Kontrolle. Doch nicht dieses Mal. Da war nur noch pure Angst. Ein taubes Gefühl in den Händen, ein Hämmern in ihrer Brust und der Atem, der nur noch flach ging und ihre Lungen nicht ausreichend mit Luft zu versorgen vermochte.

Es war ein Dienstag und Giulia war auf dem Weg zum Aldi im benachbarten Dorf. «Wie komme ich jetzt zu meinen Einkäufen?», war die einzige Frage, die ihr in den Sinn kam, obschon sie so gar nicht zu der Situation passen wollte. «Vielleicht könnte ich den Bus nehmen?» Alleine die Vorstellung aber, mit all den Menschen in einem Raum eingesperrt zu sein, löste eine neue Welle der Angst in ihr aus.

Es waren just jene Panikattacken, welche ihr das zu nehmen drohten, was ihr in ihrem Leben ein Gefühl der Freude und Freiheit vermittelt: das Autofahren, ein Abend mit Freunden im Kino, spontane Wochenendtrips mit Last-Minute-Angeboten. All das war ihr nicht mehr möglich, und so sass sie einige Monate nach der ersten Angstattacke zum ersten Mal in der Praxis des Therapeuten, der ihr von Freunden empfohlen wurde. «Was bleibt dir, wenn du das verlierst?», lautete dessen Frage, und blitzschnell kam ihre Antwort: «Nichts!». Da wurde ihr klar, wie sehr ihre Angst in einer existentiellen Ebene verwurzelt war und wirkte. Und dass sie mit alledem alleine war; denn ihr Freund fühlte sich nicht stabil genug, sich auch noch um Giulias Probleme zu kümmern, und war kurzentschlossen aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen.

Der Retter

Eigentlich war Giulia zum Zeitpunkt der Behandlung noch zu fünfzig Prozent krankgeschrieben, doch ihr Arbeitgeber übte Druck auf sie aus, das Pensum in zügigen Schritten auf hundert Prozent zu erhöhen. Dabei wurde ihr sogar mit der Kündigung gedroht, sollte sie dem nicht Folge leisten oder weitere krankheitsbedingte Absenzen haben. Natürlich war dies klar gesetzeswidrig, doch mit solchen Kleinigkeiten, die nichts zur Steigerung von Cash-flow und Gewinn beizutragen vermochten, hielten sich die Vorgesetzten nicht auf.

Giulia besann sich auf eine Taktik, die sie in ihrem Leben schon oft und erfolgreich angewandt hatte: Sie zeigte ihre Verletzlichkeit nicht und tat, was getan werden musste – sie funktionierte. Aber irgendwann ging das eben nicht mehr. Ihr Arzt beharrte auf der Diagnose Burn-out und legten ihr einen stationären Aufenthalt in einer spezialisierten Klinik nahe. Doch Giulia wollte das nicht und entschied sich, einen anderen Weg zu versuchen. «Vielleicht Familienstellen?», überlegte sich Giulia, die sich der mutmachenden Berichten aus ihrem Umfeld entsann. «Oder sollte ich es mit Hypnose versuchen, wie mir Dr. Goldinger geraten hatte?».

«Warum passiert das gerade mir?», fragte Giulia den Therapeuten mit Tränen in den Augen. Es war ihr anzusehen, dass sie sich schwer mit der Situation tat und diese einfach nur verstehen wollte. Die Frage überraschte den Therapeuten nicht. Natürlich hatte er zahlreiche Mal erlebt, dass das Unbewusste eines Menschen gerade dann, wenn es ein Burn-out «herbeiführte», seine grosse Weisheit zum Ausdruck brachte. Und dass eine solche Krise eigentlich eine entscheidende Chance war. Doch wie hätte er ihr dies sagen können? Hätte Giulia in diesem Moment die Weisheit ihres Unbewussten erkennen und ihre Lage annehmen können?

Der Therapeut holte etwas aus, um zu erklären, was es mit dieser Figur namens Burn-out auf sich hatte, welche plötzlich auf der inneren Bühne erschienen war. Giulia war ein wenig mit dem Familienstellen vertraut, denn sie hatte erzählt, wie sie vor Jahren eine Freundin zu einem Seminar begleitet hatte. Giulia erinnerte sich daran, wie Seminarteilnehmer stellvertretend die Rollen der Eltern ihrer Freundin übernommen hatten. Andere Personen stellten sich als die Krankheit zur Verfügung, an der die Freundin litt, oder als Beruf und Lebensfreude. Es zeigte sich, wie die einzelnen Figuren miteinander in Beziehung standen: Verstrickungen wurden sichtbar, Ursachen erkennbar und die Figuren gingen automatisch miteinander in Interaktion. Unter fachkundiger Leitung fand Giulias Freundin an diesem Tag ein gutes Stück Frieden für sich.

«Du bist demnach mit der systemischen Therapie ein wenig vertraut.» Der Therapeut konnte darauf aufbauen und fragte sie, welche Rolle für sie in einer Familienaufstellung dem Burn-out zufallen würde. «Das Leid?», fragte Giulia etwas unsicher und wartete auf seine Antwort. «Würdest du deine aktuelle Situation aufstellen, so fändest du dich inmitten von Erwartungen und Pflichten wieder - und mit alledem wärst du alleine. Kennst du das Gefühl, ausgeliefert zu sein? Ja? Und genau dieses Gefühl, das dir vertraut ist, würde sich da zeigen, denn du bist in einer Situation gefangen, die sich ausweglos anfühlt. Egal, was du tust oder zu leisten bereit bist, du kommst nicht aus dieser Erwartungsfalle raus. Wie könntest du dich da nicht ohnmächtig fühlen? Oder ohne Kontrolle?».

Giulia wusste dies instinktiv. Sie war in eine Situation geraten, in der sie gefangen war. Ihr Credo, alle Erwartungen und Pflichten erfüllen zu müssen, erlaubte es ihr nicht, der zunehmenden Antriebslosigkeit, den Schlafstörungen und weiteren Symptomen Beachtung zu schenken. Der Therapeut liess Giulia einen Moment, um die Bilder vor ihrem geistigen Auge entstehen zu lassen, bevor er auf die Rolle des Burn-outs zurückkam. «Diesem fällt die Rolle des Retters zu.» Auf dem Hintergrund ihrer Geschichte sei es Giulia nicht möglich, aus dem Programm «funktionieren» auszusteigen, begann er zu erklären. Also schaltete sich die Rolle des Burn-outs ein und «zog den Stecker», worauf hin das kritische Programm zum Stillstand käme – ebenso wie sämtliche anderen Programme. So beispielsweise auch die Programme «Lebensfreude» und «Vertrauen». Aber eben auch die Firewall, der Virenschutz… und alle weiteren Instanzen des Selbstschutzes, zu dem auch die Kontrolle gehört. Und es sei dann dieser gefühlte Verlust der Kontrolle, der oft Angstzustände hervorrufe. Letztlich sei es also, so versuchte er Giulia zu erklären, eine Angst vor dem Kontrollverlust.

Epilog

Giulia japse nach Luft. Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal so gelacht hatte. Es tat so gut. Für einen Moment löste sie ihren Blick von den komödiantischen Geschehnissen auf der Leinwand und betrachtete ihre Freunde, die neben ihr sassen. Sie spürte Liebe. Und Dankbarkeit. Ihre Freunde hatten stets zu ihr gehalten, hatten immer ein offenes Ohr für sie gehabt und liessen ihr zugleich die Zeit, die sie brauchte, ohne Druck auszuüben. Es gab Tage, da hätte Giulia nicht mehr daran geglaubt mit einem solch entspannten Gefühl in einem Kinosaal sitzen zu können. Im Stillen sprach sie einen Dank aus. Vielleicht an ihre Freunde, vielleicht an das Leben? Ganz bestimmt an sich, dafür, dass sie ihrem Bauchgefühl vertraute hatte und diesen Weg gegangen war.

Dann richtete sich ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Film. Der Hauptprotagonist versuchte gerade, einen ausgewachsenen Panda in eine Damenhandtasche zu stopfen, was dem Publikum eine weitere Lachsalve entlockte.

 

Wie kam es, dass sich Giulias Leben so zum Guten gewendet hatte? Giulias Geschichte geht weiter.

 

Copyright © 2019 Pascal Leresche, Uster

 

#BurnOut
#Panikattacke
#VerlustangstVerlassenheit
#Vater

Blogbeitrag als PDF speichern

© 2025 Hypnose Leresche, Uster - Impressum | Datenschutz