Lucy und die Unschuld
Die kleine Lucy sass mit angezogenen Beinen auf ihrem Kinderbett, ihr tränenüberströmtes Gesicht in ihren Händen vergraben. Nur ihr wilder Lockenkopf war noch zu sehen. „Warum mögen die anderen Kinder mich nicht? Was ist mit mir nicht in Ordnung?“, dachte sie traurig, und ihr Herz wurde schwer.
Es war zu einer Zeit...
Es war zu einer Zeit, während der ich in meiner Arbeit immer wieder demselben Thema begegnet war. Einem roten Faden gleich hatte sich dieses durch die Therapiesitzungen durchgezogen. Durch die Rituale, welche ich zusammen mit Klientinnen und Klienten und mit therapeutischer Ausrichtung in der freien Natur durchführe. Auch durch die Gespräche und den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen. Es war jenes der Unschuld. Was hat es mit der Unschuld auf sich? Wir alle sind vertraut mit diesem Begriff; aber was genau beinhaltet er? Die einen assoziieren die Unschuld vielleicht mit einer Unversehrtheit, sogar mit einer Reinheit. Für andere wiederum suggeriert sie Gutgläubigkeit und Ahnungslosigkeit. Was aber, wenn die Unschuld mehr wäre? Eine Ressource?
Vereinfacht betrachtet sind Ressourcen all die Dinge, die uns helfen, Ziele zu erreichen: Wissen, Erfahrungen, Erinnerungen, Strategien, bewährte Lösungswege, positive Erfahrungen, Selbstbewusstsein, persönliche Stärken, Hilfsmittel, Unterstützer, Freunde, Mentoren. In der Psychologie bezeichnen Ressourcen jene Potentiale, die Personen in der Auseinandersetzung mit alltäglichen Krisen und Belastungen oder zur Arbeit an ihrer Identität zu aktivieren vermögen. In der Psychologie begann man Konzepte zur Bewältigung von Belastungen zu entwickeln, und damit gewann der Begriff «Ressourcen» an Bedeutung – dieser ermöglichte einen entscheidenden Perspektivenwechsel: Für die individuelle Entwicklung und Wahrung von Gesundheit verlor sich die Defizit- oder Krankheitsorientierung zugunsten der Frage, über welche Ressourcen eine Person verfügen sollte, um spezifische Probleme bewältigen zu können - und wie diese Ressourcen gestärkt werden könnten.
Ich hatte damals gespürt, welche grosse Kraft die Unschuld sein konnte. Doch wie sollte ich meinen Klientinnen und Klienten etwas mitgeben, das ich nicht in Worte zu fassen vermochte...
Es vergingen Monate. Ich hatte mir viele Gedanken darüber gemacht und kam schliesslich auf die Idee, das Wesen der Unschuld mithilfe einer Geschichte aufzuzeigen. Ich tauschte mich mit einer guten Freundin von mir aus und bat sie, für mich die Geschichte aufzuschreiben, die ich bereits fühlen, aber nicht in Worte fassen konnte. Ihr gelangt es sofort, das Wesen dieser Geschichte wahrnehmen und auch, die richtigen Worte zu finden - damit hat sie mir ein wunderbares Geschenk gemacht. Ich möchte diese Geschichte gerne mit euch teilen.
Die Geschichte von Lucy
Die kleine Lucy sass mit angezogenen Beinen auf ihrem Kinderbett, ihr tränenüberströmtes Gesicht in ihren Händen vergraben. Nur ihr blonder wilder Lockenkopf war noch zu sehen. „Warum mögen die anderen Kinder mich nicht? Was ist mit mir nicht in Ordnung?“, dachte sie traurig, und ihr Herz wurde schwer, so wie schon gestern, vorgestern und die Tage davor. Seit Monaten wurde sie in der Schule getriezt, gehänselt und ausgegrenzt. Alles, was sie sich wünschte, war dazuzugehören. Einmal, ja, nur einmal nicht als letzte in die Mannschaft gewählt zu werden, gemeinsam mit den anderen herumtoben, lachen, Pausenbrote teilen und Poesiealben tauschen. Ein Traum. Doch es war HOFFNUNGSLOS! Nein, noch mehr, GANZ UND GAR UNMÖGLICH! Sie hatte schon alles getan, alles versucht, sie für sich zu gewinnen. Es wäre wohl das Beste, so war sie überzeugt, den Rest ihres Lebens alleine in ihrem Zimmer zu verbringen. Eine weitere Träne rollte ihre rosigen Wangen hinunter, als von draussen mit einem Mal Stimmen und helles Lachen an ihr Ohr drangen. Neugierig erhob sie sich aus ihrer Trauerstarre und ging hinüber zum Fenster. Was sie hörte, waren die Nachbarskinder, die ausgelassen und lautstark miteinander tobten. Müde und entmutigt lehnte sie ihre Stirn gegen die kühle Fensterscheibe und beobachtete sehnsüchtig das unbeschwerte Treiben. „Ach, wie gerne ich doch mitspielen würde“, seufzte sie, als sie jäh aus ihren Gedanken gerissen wurde. „Wer ist da?“ Sie drehte sich erschrocken um und blickte in das lachende Gesicht eines weiss gekleideten, von einem friedvollen Licht umgebenen Mädchens.
„Na hör mal!“, antwortete die engelsgleiche Gestalt keck, „Ich bin die Unschuld.“ – „Unschuld? Wie? Wo? Was soll das sein?“ erwiderte Lucy verwirrt. – „Liebes, du tust ja gerade so, als ob wir uns noch nie begegnet wären“, antwortete die Unschuld leicht amüsiert. „Vielleicht kennst du mich auch als Unversehrtheit oder Vollkommenheit. Ich habe viele Namen.“ – „Du bist mir fremd!“, versicherte ihr Lucy abermals. – „Fremd geworden, vielleicht“, erwiderte die Unschuld und fuhr milde lächelnd fort. „Wir kennen uns, besser als du denkst. Komm, ich zeige es dir, wenn du möchtest.“ Misstrauisch blickte Lucy auf die ausgestreckten elfengleichen Hände des ihr vermeintlich unbekannten Mädchens. „Vertrau mir“, flüsterte es sanft und zwinkerte ihr dabei aufmunternd zu. So fasste sie sich ein Herz, schloss ihre Augen und streckte die Hände aus. Was dann geschah, war etwas ganz und gar Wunderbares. Kaum berührten sich die Fingerspitzen der beiden, fielen alle Trauer und Zweifel von Lucy ab. Sie fühlte sich frei. Frei von Schuld, Angst, Schmerz, Vorurteilen, frei von Erfahrungen und Wertvorstellungen. Stark und mutig, angefüllt von grenzenlosem Vertrauen und durchtränkt von bedingungsloser Liebe. Sie war geschützt und getragen und es gab nichts, dass sie vermisste oder sich wünschte, weil sie bereits alles hatte. Sie fühlte sich ganz und gar vollkommen. Sie lächelte still in sich hinein. Die Begegnung mit der Unschuld fühlte sich an wie nach Hause kommen nach einem langen Urlaub – sicher und vertraut und gleichzeitig doch erfrischend, überraschend und neu. Und erst jetzt, da sie vollkommen war, wurde ihr klar, wie lange und schmerzlich sie die Unschuld zuvor vermisst hatte.
Sie öffnete ihre Augen. „Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht, Liebes.“ Mit diesen Worten überreichte ihr die Unschuld einen Stein. Lucy drehte ihn neugierig hin und her. Er war dunkelgrau, mit kleinen hellgrau-weissen Einschlüssen. Rau und kalt fühlte er sich an und sie spürte seine Ecken und Kanten, seine Furchen und Kerben. Darüber hinaus konnte sie aber beim besten Willen nichts Auffälliges oder Fesselndes daran finden. „Was kann der denn?» wollte sie wissen. „Was traust du ihm denn zu?“ grinste die Unschuld. „Nun ja, das ist ein Stein. Ich mache mir nicht viel aus ihnen. Ich bin schon einmal über einen wie diesen gestolpert und habe mir dabei den Fuss verletzt. Das hat richtig wehgetan. Und einmal hat jemand einen Stein nach mir geworfen. Zu viel mehr sind sie nicht nützlich, wenn du mich fragst. Wie gesagt, ich mag sie nicht besonders. Was soll ich nun damit?“. – „Er soll dich erinnern, solltest du je wieder vergessen“. – „Was vergessen?“ wunderte sich Lucy und wurde allmählich ungehalten. – „Dass du all das bist, was du in mir siehst. Dass du alles sein kannst, was du möchtest, dass du all das in dir trägst, was du gespürt hast, als sich unsere Hände berührt haben.“ Lucy wollte der Unschuld ja nicht zu nahetreten, aber dieser Stein hatte rein gar nichts mit diesem zauberhaften Wesen, dass da vor ihr stand oder dem, was sie kurz zuvor in der Berührung mit ihr erfahren hatte gemeinsam, genauso wenig wie sie selbst. Sie und der Stein waren doch gänzlich gewöhnlich, nichts Besonderes eben.
„Ich möchte, dass du etwas verstehst“, richtete die Unschuld ungewohnt ernst das Wort an die kleine Lucy, so als ob sie ihre argwöhnischen Gedanken gehört hätte, „Du und alle Menschen und alles was ist, sind wie dieser Stein. Der Stein, und das Potential, das er in sich birgt, ist immer dasselbe. Ob wir es erkennen und was wir daraus machen, bleibt jedem Einzelnen überlassen. Der Ungeschickte wird über den Stein stolpern, sich über ihn ärgern, der Vater wird damit den Grundstein für ein Zuhause legen, das seine Kinder schützt und behütet, der Kriegslüsterne wird ihn als Waffe benutzen, der Sportler als Trainingshilfe, der Unachtsame wird ihn nicht einmal bemerken, der Weise wird seinen Jahrtausende alten Geschichten lauschen und dadurch lernen, der Künstler, wird daraus etwas erschaffen, das die Welt in blankes Staunen versetzt, die Mutter wird ihn spalten, die Hälften aneinander schlagen, um damit Feuer zu machen, das ihre Familie wärmt. Dieser Stein birgt zur gleichen Zeit, allgegenwärtig, sämtliche nur erdenklichen Möglichkeiten, alles und nichts in sich - und ist und bleibt dabei doch nur ein Stein. Und genauso verhält es sich auch mit dir. Dir stehen alle Möglichkeiten offen, du trägst alles in dir, du musst es nur erkennen und daran glauben. Grenzenloses Vertrauen eröffnet grenzenlose Möglichkeiten. Und ich bin nichts anderes als reines Vertrauen. Die Gemeinsamkeiten zwischen uns beiden sind zahlreicher als die Unterschiede, glaube mir. Ich bin nicht irgendeine Unschuld, ich bin DEINE UNSCHULD. Ich bin du. Um nicht zu sagen, die beste und reinste Version deiner selbst. Das, was du sein könntest, wenn du es dir nur erlaubst, wenn du vertraust, wenn du dich erinnerst. Du siehst, ich bin auch nur ein Stein, aber einer, der um all seine Möglichkeiten und auch um das Potential aller anderen Steine weiss und darauf vertraut.
Lucy war tief berührt. „Ich habe dich vermisst. Du bist meine beste Freundin.“ – „Die allerbeste“, stimmte ihr die Unschuld zu. – „Kannst du bitte bei mir bleiben?“ – „Ja klar, wenn du das möchtest! Ich könnte in deinem Herz wohnen, wenn du darin ein Plätzchen für mich hast?“ schlug die Unschuld vor. – „Für dich! IMMER!“, freute sich die kleine Lucy. Und so schloss sie die Augen und ihre Unschuld in die Arme. Und wieder spürte Lucy das grenzenlose Vertrauen, alles und nichts, unbegrenzte Möglichkeiten, bedingungslose Liebe. Sie öffnete ihr Herz, füllte es damit an bis in die hinterste Ecke, den kleinsten Winkel, solange bis ihr Herz vor lauter Fülle beinahe zu zerspringen drohte. Dann öffnete sie die Augen. Die Unschuld war nicht mehr zu sehen, und doch war sie nicht weg, im Gegenteil. Lucy fasste sich an ihr Herz, das sich so kraftvoll und lebendig anfühlte. Und in eben jenem Moment überkam sie ein regelrechter MUTausbruch. Sie wollte nicht länger einsam und traurig am Fenster sitzen. Sie würde mit den anderen Kindern spielen. „Und wenn sie dich nicht lassen?“ hörte sie den leisen Zweifel flüstern. Bevor sie den Gedanken aufgreifen konnte, hörte sie die Unschuld lächelnd sagen: „Das werden sie nicht!“ Der leise Zweifel verstummte.
Lucy rannte voller Freude die Treppe hinunter und stürmte hinaus ins Freie. Hmmm, wie das duftete und wie grün die Bäume waren? Und war der Himmel schon immer so blau? Die Wolken schon immer so flauschig? Die Schmetterlinge schon immer so zahlreich und bunt? Und wie schön die Vögel sangen! Sie fühlte sich wie neu geboren. Und wieder spürte sie dieses grenzenlose Vertrauen, die bedingungslose Liebe und Unversehrtheit in ihrem Herzen. Die Unschuld freute sich mit ihr. „Oh“, hörte sich Lucy selbst sagen, als ein blauer Ball vor ihre Füsse rollte. Sie hob ihn auf, als auch schon Max der Nachbarsjunge vor ihr stand und sie erwartungsvoll anblickte. „Hier“, sagte Lucy freundlich und reichte ihm lächelnd seinen Ball. „Danke“, strahlte Max zurück.“ Willst du mitspielen?“, fragte er sie, als ob es das Selbstverständlichste der Welt wäre. Und als ob es nie anders gewesen wäre, spielten sie, lachten und redeten sie, den ganzen Tag, bis die Sonne… *beep* beep* *beep*... Lucy öffnete die Augen und schlug mit der flachen Hand nach ihrem Wecker. Was, wie... Herrjeh... sie war dreiunddreissig Jahre alt. Und das alles war nur ein Traum. Das konnte doch nicht sein, oder doch? Sie wusste es nicht. Das war dann wohl doch ein Gläschen Wein zu viel gestern Abend, dachte Lucy und wollte sich gerade schlaftrunken die Augen reiben, als… „Was zum… „, sie öffnete erst ihre Augen, dann ihre Hand und blickte fassungslos auf den grauen Stein mit den hellgrau-weissen Einschlüssen. Und was sie sah war kein Stein, sie sah Stonehenge, Michelangelos David, die Pyramiden von Gizeh, den Grand Canyon und noch viel mehr. All das, was dieser Stein schon war, noch sein kann und sein würde. Tränen der Rührung liefen ihr über das Gesicht. Von einer Sekunde auf die andere war sie so wach, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie erinnerte sich! Sie sprang geradezu euphorisch aus ihrem Bett, den Stein immer noch in der Hand halten und blickte in den Spiegel. Und was sie sah war keine 33-jährige Frau, sondern grenzenlose Möglichkeiten, bedingungslose Liebe, unerschöpfliches Vertrauen, Unversehrtheit in ihrer reinsten Form, und sie hätte schwören können, dass sie aus den Augenwinkeln, zwischen dem einen Wimpernschlag und dem anderen, nur eine Millisekunde, die Unschuld gesehen hätte. Die Sonne schien zum Fenster hinein und strahlte mit ihr um die Wette. Als sie sich gefasst hatte, immer noch ob der neu gewonnenen Erkenntnisse berührt, eilte sie ins Kinderzimmer, wo ihre kleine Tochter noch friedlich schlief. Sie gab ihr sanft einen Kuss auf die Stirn, ohne sie dabei aufzuwecken und legte den Stein leise auf ihr Nachttischchen. Sie würde ihr später von ihrem Traum und der Unschuld erzählen. Denn auch sie sollte wissen und nie vergessen, dass sie die Unschuld in ihrer Vollkommenheit immer und überall in ihrem Herzen trägt.
***
Ich danke dir, liebe Andrea, dafür, dass du so oft die richtigen Worte findest - in dieser Geschichte ebenso wie in unseren wertvollen Gesprächen. Danke, dass es dich gibt!
Geschrieben von Andrea Kuoni, 12.12.2015 (www.dichterei.ch)
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