In den Schuhen meines Vaters – oder die Geschichte von Giulia (Teil 2)
Man kann nichts vermissen, was man nie hatte. Wie also könnte ich meinen Vater vermissen, schlussfolgert Giulia. Und überhaupt, heisst es nicht, dass es für ein Kind vor allem wichtig ist, eine Mutter zu haben? Wie sehr sollten Giulias Gedanken Lügen gestraft werden. Doch langsam, den Erkenntnissen aus den Sitzungen soll nicht vorgegriffen werden. Die Geschichte darf da anfangen, wo eine Geschichte nun mal beginnt: am Anfang.
Der Retter
«Diesem fällt die Rolle des Retters zu.»
Giulia hörte die Worte des Therapeuten noch immer so deutlich, als sitzt dieser ihr in diesem Augenblick gegenüber. Sie hatte viel über ihre erste Sitzung nachgedacht, die ein paar Tage zurücklag, auch über die Rolle des Burn-outs – die Figur des «Retters». Viel eher hätte sie den «Retter» mit einem furchtlosen Prinzen assoziiert, der auf seinem weissen Pferd angeritten kommt. Das Burn-out hingegen hätte sie mit all dem Leid, welches ihr widerfahren war, in Verbindung gebracht, und so wollte dieses nicht so recht zu ihrem Bild von dem märchenhaften Erlöser passen. Und dennoch, das Gehörte stiess tief in ihr auf Resonanz. Giulia ahnte in diesem Moment, dass die Dinge vielleicht nicht so waren, wie sie es sich weismachen wollte, und dass es Zeit war, einer weiteren Figur auf ihrer inneren Bühne Platz zu machen.
Man kann nichts vermissen, was man nie hatte
So viel Liebe und Fürsorge die Grossmutter Giulia auch schenkte; sie hatte die Rolle der Mutter übernommen, doch konnte sie die Mutter nicht ersetzen. Giulia war sich dessen bewusst, und auch wenn sie dies ihrer Mutter gegenüber nie zugegeben hätte – sie vermisste sie, schmerzlich sogar. Und zuweilen liess sie ihrer Enttäuschung, der Trauer und Wut auch freien Lauf, dann, wenn sie alleine war und ihr alles zu viel wurde.
Giulias Ratio hatte ihre Mutter ins Spiel gebracht, schon wieder. Der Therapeut hatte geduldig zugehört, hielt nun aber einen Moment inne, bevor er sprach: «Es ist Teil meiner Arbeit, jenes, was der Verstand einbringt, zu würdigen – und zugleich offen zu bleiben.» Letztlich ginge es ja nicht um den Kopf, sondern um das Herz. Giulia nickte. «Und es ist dein Unbewusstes, welches die Schlüssel für eine Veränderung zu identifizieren vermag.» Giulia sollte noch im Laufe dieser Sitzung erkennen, dass es dieses Mal nicht um die Mutter geht, sondern sich eine andere Person in den Vordergrund rückt.
Der Therapeut bat sie, von ihrem Vater zu erzählen. Giulia stutzte einen Moment, denn ihren Vater hatte sie bisher gar nicht erwähnt. Wie hätte sie auch können, spielte dieser in ihrem Leben doch keine Rolle. Sie atmete tief durch und begann zu erzählen: Ihren Vater hatte sie zwei Jahre zum ersten Mal getroffen. Und sie berichtete von diesem Treffen – letztlich sollte es bei ein paar wenigen Begegnungen bleiben, bevor Giulia den Kontakt abbrach -, und davon, dass ihr Vater geweint hätte. Da stand dieser fremde Mann vor ihr, aufgelöst in eigenen Gefühlen von Trauer und Schuld, und hoffte auf eine emotionale Reaktion seiner Tochter. Diese entschied sich, ihm diesen Gefallen nicht zu erweisen, und diese Episode in der Kategorie «mein Vater war nie da, also kann er nicht wichtig sein» abzulegen. Die eigentlichen Gefühle des Nicht-gewollt-seins – des Schmerzes, der Trauer, des Verlustes – wären schlicht zu schmerzhaft und – existentiell – bedrohlich gewesen. «Man kann nicht vermissen, was man nie hatte!» So sehr der Therapeut diesen Glauben nachvollziehen konnte, so sehr war ihm klar, dass verschiedene Abwehrmechanismen aktiv waren und Tieferliegendes nicht freigaben.
Im Laufe des Gesprächs und therapeutischen Arbeitens fing die Überzeugung «Ich vermisse meinen Vater nicht» zunehmend an zu bröckeln und wich einer grossen Angst, der Angst, die wirkliche Tiefe dieser weit zurückliegenden Verletzung zuzulassen. Nun, da sich diese Angst zeigte, ergab sich für Giulia ein Moment der Selbsterkenntnis: Der Vater war nicht unwichtig, es war bisher einfach zu schmerzhaft, diesen Teil ihrer Geschichte zuzulassen. Mit dieser Klarheit konnten Giulia und der Therapeut gezielter arbeiten und einen ersten Teil dieser Angst auflösen.
Das auberginefarbene Kissen
Es war ein regnerischer Tag. Die Niederschläge setzten in der Morgendämmerung ein und liessen nicht nach, obschon es bereits später Nachmittag war. Giulia war froh, sich in der wohligen Wärme zu wissen. Mittlerweile war ihr der Raum vertraut, in dem sie mit dem Therapeuten sass. Der bequeme Sessel, das gedämpfte Licht und Picassos Taube mit den bunten Blumen, die als Kunstdruck an der Wand hinter ihr hing, waren zu einem Ort geworden, an dem sich Giulia sicher fühlte. Sie hatte sich angewöhnt in schwierigen Momenten ihre Augen zu schliessen und sich mit diesem Raum zu verbinden; meist funktionierte es und ein Gefühl der Zuversicht durchströmte sie. Giulia hatte verstanden, dass dieser Raum auch ein Ort tief in ihr drin war. Ein Ort, der ihr alleine gehörte und an dem sie sich sicher fühlte.
Giulia hörte nicht mehr, wie der Regen an das Fenster prasselte. Sie befand sich in der Zwischenzeit in der Mitte des Raums, stehend und in einem Zustand leichter Hypnose. Vor ihrem geistigen Auge erschienen verschiedene Bilder. Dabei tauchte beispielsweise eine Vorgesetzte aus ihrer Firma auf, die ungerecht handelte. Auch ihr ehemaliger Partner, der sie in den Anfängen der Beziehung wiederholt und tief verletzte. Die erfahrenen Ungerechtigkeiten, die Verletzungen, das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Als Ausdruck dieser Last hielt Giulia einen grossen Stein in ihren Händen. Sie realisierte, dass ihre schweren Gefühle mit all diesen Personen und Situationen zu tun hatten. Ja, dass es eben diese Gefühle waren, die einem roten Faden gleich all diese Ereignisse auf ihrem Lebensweg miteinander verknüpften. Und sie ahnte, dass dieser rote Faden sie noch weiter in ihre Geschichte zurückbringen wird. Zum Anfang. Für einen Moment konnte sie wirklich spüren, welche schwere Last sie über all die Jahre getragen hatte. Das Gewicht dieser Bürde zu spüren, löste Unglauben in ihr aus, denn ihr war nicht klar, wie sie eine solch grosse Last hatte tragen können.
Giulia erlebte die Situation auf so wirkliche Weise, dass sie längst vergessen hatte, dass sie in diesen Raum stand, umgeben von Kissen, die auf dem Boden lagen. Jedes dieser Kissen wurde vom Therapeuten stellvertretend für eine Person platziert. Giulia befand sich in Hypnose und inmitten einer Art Familienaufstellung. Um den Verstand auszublenden, hatte sich der Therapeut dafür entschieden, diese Aufstellung verdeckt zu halten und Giulia nicht offenzulegen, wofür die einzelnen Kissen standen.
Giulias Verstand war ratlos, ja überfordert. Und diesen Raum nutzte ihr Unbewusstes, das sanft die Führung übernahm. So wie jenes, was vertraut ist, augenblicklich eine Resonanz auslöst, zeigte sich für Giulias Unbewusstes ein klares Bild, während ihr Verstand noch im Dunkeln tappte. So als ob Giulias Unbewusstes das chaotische Bild durch eine Farbbrille betrachten würde, die all das, was offensichtlich schien und sich in den Vordergrund drängte, herausfilterte, um das verborgen scheinende Bild sichtbar werden zu lassen.
Giulias Unbewusstes erkannte ihre Mutter, die zu ihrer Linken stand, da wo das türkisfarbene Kissen lag. Auch ihr Exfreund, der Job und ihr Chef – sie alle waren da, jeder auf seinem Platz. Doch Giulias Aufmerksamkeit galt keinem von ihnen. Ihr Blick war fest auf das auberginefarbene Kissen geheftet, das sich etwas abseits befand. Auf einmal tat sie einen Schritt nach vorne und legte den Stein, den sie immer noch in den Händen hielt, gezielt auf dieses Kissen. Da gehörte er hin, denn für Giulias Unbewusstes war es kein auberginefarbenes Kissen, sondern jene Person, welche zu einem grossen Teil für die Entstehung von Giulias Bürde verantwortlich war.
Für Giulia begann sich in diesem Moment etwas aufzulösen. Ein Nebel, der sie ein Leben lang umhüllt hatte, die Dinge verschwimmen und die Geräusche dämpfen liess. Die Erkenntnis traf sie so unerwartet wie heftig: Ihre gesamte momentane Lebenssituation war verbunden mit dieser ersten und tiefen Verletzung - dem Verlassenwerden durch den Vater. Jetzt, da ihr dies klar war, machte plötzlich vieles Sinn. Sie hatte früh einen Teil der Verantwortung übernommen, der eigentlich dem Vater zugefallen wäre. Und die über die Jahre der Kindheit und Jugend verankerten Muster bestimmten ihren weiteren Lebensweg mit: So fühlte sie sich schon als Kind, später als Teenagerin und als junge Frau für das Wohl anderer verantwortlich. Giulia übernahm viel, wenn es darum ging finanzielle Sicherheit zu gewährleisten, sie fällte schwierige Entscheidungen in der Familie und, später, in der Partnerschaft. In der Partnerschaft hatte sie, wie sie es selber ausdrückte, klar die Rolle des Mannes übernommen. Und, allem voran: Sie funktionierte, egal was und wieviel auf sie zukam.
Giulia war sehr erschöpft, als sie an diesem Abend die Praxis verliess und sich in der Dämmerung, die schon längst eingesetzt hatte, auf den Heimweg machte. Zuhause angekommen begrüsste sie Gioia, ihre Birmakatze, nur flüchtig und liess sich gedankenzerstreut auf der Couch nieder. In dieser Sitzung kam vieles zum Vorschein, und Giulias Verstand unternahm einen letzten aussichtslosen Versuch, das Erlebte einzuordnen, bevor der Schlaf sich wie ein dunkles Tuch über sie legte. Ihr Verstand kam zur Ruhe, das Bewusstsein wich dem Schlaf. Doch tief in ihr drin setzte Giulias Unbewusstes seine Arbeit unermüdlich fort und sortierte das Erfahrene, schaffte Ordnung – und Frieden.
Giulia übernimmt das Steuer
Die Fliehkraft drückte Giulias Körper nach aussen. Sie war etwas schnell in die Kurve gegangen, doch sie wollte sich diese Freude einfach nicht nehmen lassen. «Ich bin wieder unterwegs!»
Nach den ersten Sitzungen machte sich Giulia mit ihrem Auto in die Ferien auf. Aus Vorsicht hatte sie ihr ursprüngliches Ziel, eine Fahrt ans Meer, zwar abgeändert. Ihr neues Ziel erforderte aber immer noch eine mehrstündige Fahrt, durch Tunnels und über hochgelegene Bergpässe. Giulia war unterwegs in ihre Heimat, in das Val Bedretto, wo ihre Grossmutter noch immer wohnte. Unterwegs zu ihren Wurzeln.
Manchmal tauchte ein flaues Gefühl auf, als Giulia mit ihrem narzissengelben Fiat Cinquecento die Serpentinen der Passstrasse hochflitzte. Doch die Panikattacken blieben aus. Sie bewerkstelligte diese Fahrt allein, stellte sie für sich fest. Und all das war ihr zuvor und nach dem Burn-out nicht mehr möglich gewesen, schloss sie mit einem Gefühl der Dankbarkeit.
Giulias Geschichte von Beginn an - erster Teil
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