Jeri und Lev

In letzter Zeit nahmen Sam und seine Frau nur noch die Probleme wahr, die sich im Leben ihrer Tochter so plötzlich anzuhäufen schienen. Freunden gegenüber sprachen sie nun von ihrem «schwierigen Kind», und in der Anwesenheit von Geraldine liessen sie sich immer häufiger zu Aussagen hinreissen wie «du bist hysterisch». Oder vielleicht zu «immer musst du übertreiben». Manchmal sogar «du bist eine Dramaqueen». Als sich die Probleme auf Geraldines schulische Leistungen auszuwirken begannen, war klar, dass sie als Eltern handeln mussten.

Jeri

Geraldine ging es gut, seit Monaten das erste Mal wieder. Sie schloss ihre Augen, sog die frische Herbstluft ein und genoss das Gefühl der Lebendigkeit, welches die Morgenluft auf ihrem Gesicht hinterliess; es fühlte sich an, als würde der Nebel, der sich dicht und einem Schleier gleich über den Hof gelegt hatte, sie in die Arme schliessen. Nach diesem Gefühl der Geborgenheit hatte sie sich lange gesehnt.

Geraldine hatte eben die Praxis verlassen und bereits ihre dritte Sitzung hinter sich. Die Therapie half ihr, die Dinge klarer zu sehen. Sie konnte endlich wieder frei atmen, war erlöst von den Sorgen, die sie zu erdrücken gedroht hatten. Und von ihren Ängsten, denen sie sich schutzlos ausgeliefert gefühlt hatte. Es war nicht der Therapeut, der ihr die Sorgen nahm oder ihre Probleme löste. Aber er unterstützte sie dabei zu verstehen, was mit ihr geschah und wie all das passieren konnte. Er nahm ihr das Gefühl, falsch zu sein –- und für Jeri ganz wichtig: Er hörte ihr wirklich zu.

Jeri schloss ihr Fahrrad auf, schwang sich auf den Sattel und fuhr los. Sie schlug nicht den direkten Weg zu Schule ein, sondern folgte ein Stück weit dem Bach, der sich seinen Weg zwischen historischen Fabrikgebäuden, imposanten Direktionsvillen und Kuhweiden – alles Zeugen aus einer anderen Zeit – ins Zentrum der Stadt durchbahnte. Sie mochte diese Strecke und war immer wieder aufs Neue erstaunt, wie es dem Wasser gelang, in dem Durcheinander aus Bauten und lärmenden Strassen nicht verloren zu gehen, sondern sich seinen Raum zwischen all dem Altem und Neuem wahrte. Wäre es doch so leicht, wie das Wasser zu fliessen, dachte Jeri mit einem Lächeln. Sich keine Gedanken darüber zu machen, was hinter der nächsten Biegung lag, sondern es dem Bach gleichzutun, und einfach zu fliessen, in der Ruhe und als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass der Weg stets weitergeht.

Jeri kam bei den Fahrradunterständen des Schulhauses an. Die anderen Schülerinnen und Schüler waren bereits im Gebäude, dem es mit seinem Siebzigerjahre-Stil an Patina mangelte; sie würde es rechtzeitig zum Unterricht schaffen. Sie war froh, dass ihr der Stundenplan so viele Freiheiten bot. Diese waren zwar für ihr Sporttraining gedacht, erlaubten in ihrem Fall aber auch, hin und wieder eine Therapiesitzung diskret unterzubringen. Und manchmal blieb ihr sogar die Zeit für einen kleinen Umweg so wie heute.

In dem Moment, in dem sie das Schulhaus betrat, zog sich etwas in ihr zusammen. Jeri hielt inne, enttäuscht, dass sich das gute Gefühl, das sie eben noch umhüllte, bereits ein wenig verflüchtigte. Dann aber mahnte sie zu Geduld. Schliesslich, so sagte sie sich, sei es noch nicht lange her, dass ihr all dies widerfahren war.

Mobbing

Sie hatte sich nie gross mit Mobbing auseinandergesetzt. Es hatte sie ja nicht betroffen, im Gegenteil: Wie viele andere dachte auch Jeri insgeheim, dass dieses Thema im Allgemeinen zu gross gemacht würde, sich die «Betroffenen» vielleicht sogar wichtig zu machen versuchten – ein kläglicher Versuch, so formulierte es ein Kollege einst, etwas Anerkennung zu erhalten. Doch selbst davon betroffen zu sein, öffnete Jeri nicht nur die Augen oder beschämte sie ob ihrer bisherigen Gedanken – es zerstörte sie beinahe. Nie hätte sie sich ausmalen können, was Mobbing mit dem Opfer wirklich machte; nun wusste sie aus eigener Erfahrung, dass es die Hölle ist.

Das Thema war natürlich Gegenstand der Sitzungen beim Therapeuten, und sowohl die Gespräche als auch das therapeutische Arbeiten hatten bald eine spürbare Erleichterung zur Folge. Etwas aber hatte Jeri in der vergangenen Woche beschäftigt. Und begonnen hatten die verwirrenden, ja beängstigenden Gedanken nach dem Schwimmtraining am vorletzten Dienstag. Ihr Sport hatte ihr bisher immer Kraft gegeben, so auch an diesem besagten Tag, wenn auch deutlich schwächer. Doch dieses Mal war da noch etwas anderes, als ob es einen Widerstand in ihr gegen das Schwimmen gibt, etwas, das ihr einen grossen Teil ihrer Freude nahm. Aber nicht nur: Es fühlte sich so an, als würde sie wegen des Schwimmens alles verlieren – auch das Schwimmen selbst, das ihr so viel bedeutete. An diesem Dienstag stand Jeri vor dem Hallenbad und spürte, dass ihr etwas den Boden unter den Füssen wegzog. Natürlich nahm sie nach diesem ersten Schock und in den folgenden Tagen diese Widersprüchlichkeit in sich wahr, aber erst die Sitzung von heute Morgen brachte ihr die Klarheit. Jeri verstand nun, dass sie in einen Teufelskreis geraten war.

Fluch oder Segen

«Weisst du, Jeri, ob dir das Schwimmen zu Beginn ein Gefühl vermittelt hat, frei zu sein?» Jeri bejahte die Frage des Therapeuten mit einem Kopfnicken. «Ich gehe davon aus, dass dir mit den Wettkämpfen und den zunehmenden Erfolgen dieses Gefühl etwas abhandengekommen ist. War das infolge des Leistungsdruckes? Ja? Dafür hast du mehr und mehr an Sicherheit gewonnen, wie du mir erzählt hast.» Vor Jeris geistigem Auge spielte ein Film ab, und sie sah sich selbst im Training, bei den Wettkämpfen. In dem Augenblick, in dem Jeri in das Schwimmbecken steigt, fühlt sie sich sicher. Das Wasser ist ihr vertraut, die Begrenztheit der Langbahnen geben ihr eine Ausrichtung und den Halt, den sie sonst im Leben längst nicht mehr spürte. Die Erfolge sichern ihr die Anerkennung, nach der sie insgeheim strebte.

«Doch je grösser deine Erfolge waren», fuhr der Therapeut fort, «desto mehr löste dies Neid bei den anderen aus. So wurde der Montagmorgen, wie du mir erzählt hast, für dich zu einem schwierigen Moment.» Ja, der Montagmorgen, dachte Jeri, wenn die Resultate aus den Wettkämpfen des vergangenen Wochenendes an den Korridorwänden des Schulhauses aufgehängt werden. Sie sah die Schülerinnen und Schüler, welche Schlange standen, begierig darauf, die Namen der Erstplatzierten in den verschiedenen Kategorien auszumachen. «Schwimmen», hörte sie einen fiktiven Sprecher verkünden. «Erster Platz in der Langbahnmeisterschaft über 50 Meter: Geraldine Kryenbühl». Und weiter: «Ski Alpin, Nationale Meisterschaft: Erster Platz Levin Bosshardt».

Levin, war Jeri überrascht, warum er? Spielt mir mein Gehirn einen Streich? Für einen Moment war Jeri versucht, sich in Gedanken an den neuen Jungen an der Schule zu verlieren. Sie mochte Levin, obschon sie noch kein Wort mit ihm gewechselt hatte. Vielleicht hatte sie Angst vor einer möglichen Zurückweisung, obschon er durch seine bestechenden Erfolge ja irgendwie im selben Boot sass.

Jeri erinnerte sich gut an Levins ersten Schultag, mitten im Semester. Es war ihr sofort aufgefallen, wie er sich in den Korridoren unsichtbar zu machen versuchte, und, kaum war der Unterricht zu Ende, mit hängenden Schultern das Schulhaus verliess und verschwand, während andere noch in Grüppchen zusammenstanden und plauderten. Jeri konnte sich gut an einen Moment erinnern, als er wieder eiligen Schrittes zum Ausgang eilte und beinahe in sie hineingerannt wäre. Ihre Blicke trafen sich, dann verschwand er.

Irgendetwas umgab ihn, das sie anzog. Oder war es einfach etwas, das ihr vertraut war? Seine Einsamkeit? Seither ging ihr der Junge nicht mehr aus dem Kopf. Jeri schüttelte die Gedanken ab und bemühte sich, wieder präsent zu sein.

Im weiteren Gespräch wurde Jeri nochmals bewusst, wie alles kam: Zu Beginn registrierte sie bei einzelnen Schülerinnen und Schülern eine ablehnende Haltung ihr gegenüber. Bald wurde sie aus Grüppchen ausgeschlossen und letztlich folgten die offenen Anfeindungen. Verbale Angriffe, Beleidigungen, Feindseligkeiten – wie hatte es soweit kommen können? In ihrer Verzweiflung zog sich Jeri mehr und mehr zurück, konzentrierte sich fast ausschliesslich auf ihr Training und die Wettkämpfe. Unbewusst war ihr klar, dass dies keine Lösung war. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, dass dieser Plan so gründlich fehlschlug – und das Ganze noch verschlimmerte.

Jeri war klar, dass die Bestplatzierten bei denjenigen mit unteren Rangierungen nicht einfach Missgunst auslösten; es brachte diese unter zusätzlichen Erwartungsdruck. Ein Platz an der renommierten Sportschule war keineswegs einfach gegeben, sondern war letztlich auch von den sportlichen Resultaten der einzelnen Schülerinnen und Schüler abhängig. Dennoch konnte Jeri das Ganze nicht so richtig verstehen, bemühte sich aber in der Schule ihre Verletztheit nicht zu zeigen und die in ihr aufkeimende Wut zu unterdrücken.

Dies gelang ihr recht gut, so dachte sie, zumindest bis zu jenem Tag, da ihr ein Mädchen, das sie nicht einmal kannte, eine grobe Beleidigung an den Kopf schleuderte. Jeri erinnerte sich, wie sie einfach dastand, zu perplex für eine Reaktion. Schliesslich aber wich die Hilflosigkeit einer Wut, und sie schlug dem Mädchen deren Bücher aus der Hand und schrie sie an. Sie schrie einfach, und alles um sie herum erstarrte. Da wusste sie, dass sie zwar das Opfer war, dies aber niemanden interessierte. Als Gemobbte wird sie wegen ihrer übertriebenen Reaktion zum Paria der Klasse oder gar der ganzen Schule werden.

Das war der Zeitpunkt, als etwas in Jeri begann, sich gegen das Schwimmen zu stemmen. Es war ihr Unbewusstes, dass längst verstanden hatte, dass ihr Sport Segen und Fluch zugleich war, dass sich die Probleme noch verschärfen würden, wenn sich Jeri wegen ihres Bedürfnisses nach Sicherheit weiter auf das Schwimmen konzentrieren und zugleich ihre Verletztheit und Einsamkeit ausblenden würde. Und ihr Unbewusstes begann sie zu schützen.

Das war der Zeitpunkt, als die Probleme, die längst in ihrem Zuhause Einzug gehalten hatte, nun auszuufern drohten. Die Situation war unerträglich und dauerte noch einige Tage an. Dann fasste ihr Vater Sam einen Entschluss, und noch in derselben Woche begleitete er seine Tochter zu einem Therapeuten.

Lev

In einer weiteren Sitzung hatten Jeri und der Therapeut über Ressourcen gesprochen, über jene Dinge, die Jeri das spüren liess, was für sie jetzt besonders wichtig war: Freude, Kraft und Vertrauen – und Liebe. Jeri wünschte sich, sich dafür in einen angenehmen Zustand der Hypnose führen zu lassen, was ihr ermöglichte, sich von so vielem freizumachen, was sie für sich nicht mehr wollte, nicht mehr brauchte: Ihr hoher Leistungsanspruch, der ihr bereits mit der Muttermilch eingeflösst wurde, der ganze Druck, die Wertungen und Etiketten wie «du bist eine Dramaqueen», und auch andere – und die Angst.

Es war ein Gefühl von Weite in ihrem Herz, das sie am nächsten Morgen erwachen liess, lange bevor ihr Wecker seinen nervigen Auftritt zum Besten geben konnte. Durch die Sitzung vom Vortag fühlte sich Jeri ermutigt, endlich einen Schritt auf Levin zuzugehen. Sie konnte es sich immer noch nicht erklären, warum sie sich diesem Jungen so verbunden fühlte. Aber es war ihr egal, sie wollte auf ihr Herz hören und ihren Verstand auf die Zuschauerbänke verbannen. Letztlich ging es um die Liebe, und diese betraf, wie Jeri mittlerweile wusste, nicht den Kopf, sondern das Herz.

«I have always kept my faith in love
It’s the greatest thing from the man above»

Jeri summte vor sich hin, während sie sich federleicht fühlte, in ihre Kleider schlüpfte und sich für einen Tag zurechtmachte, der gut werden würde. Sie mochte die Texte der irischen Sängerin. Sie mochte die Frau, die hinter den Liedzeilen stand. Wie tief musste diese in das Leben eingetaucht sein, sinnierte Jeri, dass sie das Leben und Lieben, all die Tragik so übermässig wahrnahm? Die Sängerin hatte in ihrer Kindheit und Jugend schlimme Dinge erlebt, und vielleicht fühlte sich Jeri deshalb mit ihr verbunden. «Sie würde mich verstehen», dachte sie in besonders schwierigen Momenten und kam sich augenblicklich lächerlich vor, ja kindisch. Doch während sie sonst von den aufrührerischen und herausfordernden Worten der Sängerin angetan war, sang Jeri in diesem Moment eine ganz andere Zeile.

«Ich habe mir immer den Glauben an die Liebe bewahrt
Es ist die grösste Sache vom Herrn über uns»

Jeri verliess die Wohnung, schwang sich auf ihr Fahrrad und schlug den direkten Weg zur Schule ein.

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Kennst du den Einstieg in die Geschichte von Jeri? Schau mal rein in «Wurzeln und Flügel»

Und möchten Sie wissen, wie es weitergeht? Lies nach in «Lev und Jeri»

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Mit Textzeilen aus dem Lied «Just My Imagination» von Dolores O’Riordan von The Cranberries

 

Copyright © 2022/2023 Pascal Leresche, Uster

 

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