Lev und Jeri

Er brachte keinen Bissen herunter, stocherte nur in seinem Porridge herum - nicht lustlos, verzweifelt. In ihm war nur noch Angst. Seine Mutter, da war sich Lev sicher, spürte das. Doch auch sie spielte die ihr zugedachte Rolle in diesem Stück, dessen Urheber weder sie noch er war. Lev konzentrierte sich auf das Geklapper der Töpfe, die seine Mutter in der Spüle zum wiederholten Male reinigte; nicht, weil deren makellose Sauberkeit in diesem Moment wichtig war, sondern um die vorherrschende Spannung etwas erträglicher zu machen. Plötzlich ging die Türe auf, ein eisiger Luftzug wehte durch den Raum. Und mit diesem trat der Urheber des Stücks in die geheizte Stube.

Lev

Er trat ins Freie. Lev war froh, wenn er das Schulhaus nach Unterrichtsende jeweils schnellstens verlassen konnte. Dieses Mal hätte er beinahe dieses Mädchen umgestossen. «Wie peinlich ist das denn?», warf er sich im Stillen vor. Gerade Sie! Das Mädchen war ihm bereits an jenem Tag aufgefallen, als er nach dem Umzug der Familie seinen ersten Tag an dieser Schule hatte. Was genau er an diesem Mädchen so besonders fand, konnte Lev nicht ausmachen. Eigentlich interessierten ihn die Mädchen nicht wirklich. Nun, interessieren vielleicht schon, aber er hatte seine eigenen Sorgen, die ihm keine Zeit für anderes liessen. Ausserdem: Warum sollte sich ein Mädchen gerade für ihn interessieren? Doch er erkannte bei ihr etwas etwas in ihrem Blick, wenn sie ihn ganz unverwandt anschaute. War es Trauer? Oder Einsamkeit, die er in ihren smaragdgrünen Augen erkannte?

Aber jetzt hatte er es ja geschafft: Er war draussen. Gewohnheitsmässig steuerte er direkt auf die grosse Eiche zu. Erst als er direkt vor dem majestätischen Baum stand und sich dessen bewusst wurde, kam die Erinnerung - an bessere Tage. Und mit ihr kam die Trauer. Als wäre es gestern gewesen sah er im Geiste seine Mutter vor sich, wie sie ihn jeden Tag zur Schule gebracht hatte, Hand in Hand. Und wie sie nach der Schule auf ihn wartete, auch bei einer grossen Eiche, die sich in der Nähe seines alten Schulhauses befand. Lev wusste, dass ebenso ein Schoggibrötchen auf ihn wartete, welches die Mutter eigens auf einem kleinen Umweg über die Bäckerei für ihn gekauft hatte. Als wäre es gestern gewesen ...

Aber es war nicht gestern gewesen, auch nicht heute. Das Bild vor dem geistigen Auge löste sich auf, brachte ihn zurück in die Realität. Und als er sich sicher war, dass seine Mutter nicht erscheinen würde, machte er sich mit gesenktem Kopf auf den Weg nach Hause.

Da angekommen verzog sich Lev gleich in sein Zimmer, schloss die Türe und drehte die Musik auf.

«In your head, in your head they’re still fightin’
With their tanks and their bombs
And their bombs and their guns»

Lev schlug das Heft auf. Doch der Stift blieb reglos in seiner Hand. In Levs Kopf tobte ein Sturm.

«In deinem Kopf, in deinem Kopf, da kämpfen sie
mit ihren Panzern und ihren Bomben
und ihren Bomben und ihren Waffen»

Er musste einen Aufsatz über einen speziellen Moment in seinem Leben schreiben. Nein, einen bedeutungsvollen Moment, erinnerte sich Lev. Die Lehrerin schlug ihm vor, über seinen triumphalen Sieg bei der Regionalmeisterschaft zu schreiben. Sie schien von ihrer eigenen Idee äusserst angetan zu sein. Lev vermochte ihre Begeisterung nicht zu teilen.

«In your head, in your head they are cryin’»

«In deinem Kopf, in deinem Kopf, da schreien sie»

Die Regionalmeisterschaft. Lev seufzte. Warum mussten immer alle darauf rumreiten? Konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Niemand fragte je danach, wie es ihm ging, was seine Wünsche sind. Er wollte es einfach vergessen, dieses Wochenende - überhaupt den ganzen Skirennzirkus. Und damit den Druck, der angesichts der an ihn gestellten Erwartungen auf ihm lastete. Ebenso die Ängste, die ihn vor allem nachts plagten und innerlich aufzufressen drohten. Das Gefühl von Freiheit, das er beim Skifahren stets so genossen hatte, war längst verschwunden. Es gelang ihm einfach nicht, all das aus seinem Kopf zu verbannen.

«In your head, in your head
Zombie, zombie, zombie-ie-ie
What's in your head, in your head?
Zombie, zombie, zombie-ie-ie-ie, oh»

Der Schmerz in der Stimme der irischen Sängerin Dolores O’Riordan verschmolz mit seinem eigenen.

«In deinem Kopf, in deinem Kopf
Zombie, Zombie, Zombie-ie-ie
Was geht in deinem Kopf vor, in deinem Kopf
Zombie, Zombie, Zombie?»

Lev wollte auf jeden Fall über ein anderes Thema schreiben, doch seine Erinnerungen trugen ihn immer wieder zurück zu diesem Wochenende, das wiederum nur stellvertretend für so viele andere Momente in seinem Leben stand. Meilensteine hätte sein Vater gesagt. Ja, Meilensteine, die eine endlos lange Strasse in der Ödnis des Lebens markierten. Genau genommen trugen die Erinnerungen Lev zu jenem Augenblick zurück, einige Stunden vor dem Start, als er in der warmen Stube sass und er in seinem warmen Haferbrei herumstocherte.

Es war früh, sehr früh. Die Sonne würde erst in ein paar Stunden aufgehen. Sein Vater harrte seit geraumer Zeit in der eisigen Kälte draussen vor der Hütte aus, um Levs Ski zu präparieren. Lev sass am Tisch und spürte den bangen Blick seiner Mutter auf sich, die in der Küche umherging, mehr um sich zu beschäftigen, als um wirklich etwas zu erledigen. Wie gerne hätte er sich ihr in diesem Moment anvertraut - und auch schon früher. Er wollte ihr von seinen Ängsten erzählen und davon, dass er mit dem Rennfahren aufhören wollte. Doch wie hätte er dies machen können, wo seine Eltern doch so viel für ihn taten? Lev sehnte sich danach, von seiner Mutter umarmt und von ihr über sein Haar gestreichelt zu werden. Dies war früher ihr Ritual gewesen. Auch heute noch konnte er die damals gefühlte Geborgenheit spüren, wenn er sich daran erinnerte.

Wie hätte Lev wissen können, dass die Mutter nur vortäuschte, die Töpfe zu reinigen? Nur so konnte sie ihm den Rücken zuwenden und sichergehen, dass er ihre Tränen nicht sah. Wie gerne hätte sie in einfach in die Arme geschlossen, ihren Levin, ihm sanft übers Haar gestreichelt, wie sie das früher immer zu tun pflegte. Sie kannte ihren Sohn und wusste von seinen Sorgen. Der Druck war einfach zu gross, doch wie hätte sie das ihrem Mann sagen können? Schliesslich kümmerte er sich um sein Kind; von all ihren Freundinnen hörte sie stets Klagen darüber, dass deren Männer ihre Vaterrollen nicht übernehmen. Und sie selbst konnte sich nur zu gut an ihre Kindheit erinnern - an ihren Vater oder genauer: an dessen emotionale Abwesenheit.

Im Alter

Sogar wenn Lev gewusst hätte, wie sehr in diese Momente prägen und ihn seine Ängste verfolgen würden; er hätte nichts daran ändern können, nicht in diesem Moment. Alles hat seine Zeit. Die Jahre werden ins Land ziehen, viele Jahre.

Am 5. November 2057 ist Levin 49 Jahre alt und er beginnt die Dinge zu richten. Beinahe hätte er sich nicht auf diesen Prozess eingelassen, der ihn nochmals mit besonders schmerzvollen Augenblicken aus seiner Kindheit und Jugend in Berührung bringt. Und mit den schwierigen Gefühlen, die er während Jahrzehnten erfolgreich verdrängte. Doch ihm bleibt keine Wahl, denn die Ängste haben sich längst in einer ernstzunehmenden Störung manifestiert, und die körperlichen Anzeichen, welche die häufig auftretenden Panikattacken ankündigen, lassen ihn Mal für Mal fürchten, einen Herzinfarkt erleiden und sterben zu müssen.

Lev versteht inzwischen, dass es der Traum des Vaters war, Skirennfahrer zu werden; dieser blieb wegen der vielen Arbeit auf dem Hof unerfüllt, und so war es Levs Aufgabe, dessen Traum zu leben. Ebenso ist ihm heute klar, dass seine Mutter in ihrer eigenen Geschichte gefangen und Lev somit auf sich allein gestellt war. Schritt für Schritt erkennt Lev, was es bedeutete, in die Geschichte seiner Eltern geboren zu werden, und so versteht er mehr und mehr seine eigene Biografie. Lev ist entschlossen, die Dinge zu richten und einen Weg zu seinem Frieden zu finden.

Doch alles zu seiner Zeit. An diesem Dienstag im Frühsommer des Jahres 2023 war er einfach ein einsamer Teenager, der eine gute Erfahrung brauchte.

Jeri

«Du bist Levin, oder?» Er drehte sich um und sah direkt in ihre Augen. Smaragdgrün, er hatte sich nicht getäuscht. «Lev.» Mehr brachte er nicht heraus. Dann übernahm sie das Zepter. Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln und wies mit einem Kopfnicken in Richtung des Ausgangs. Zusammen verliessen sie das Schulhaus, überquerten den Platz und gingen den Weg am Waldrand entlang, der sie ins Stadtzentrum führte. Als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Sie gingen wortlos nebeneinander, doch Lev spürte, dass es eine Verbindung zwischen ihnen gab. Obschon sein Kopf sich darauf keinen Reim machen konnte, blieben die vertrauten Zweifel und Gedanken aus. In diesem Moment fühlte er sich verstanden. Als wären er und dieses Mädchen, nach dessen Namen er zu fragen vergessen hatte, seit langer Zeit Verbündete.

An diesem Abend hatte sich Lev in sein Zimmer zurückgezogen, wie gewöhnlich – doch etwas war anders. Er spürte noch immer dieses Gefühl, das Gefühl verstanden zu werden, obschon das Mädchen, dessen Name er nun kannte, und er kaum miteinander gesprochen hatten. Dies weckte Hoffnung in ihm. Mit einem Lächeln stellte er fest, dass er gar nicht wusste, worauf er eigentlich hoffte; es schien ihm nicht wichtig zu sein. Lev nahm sein Smartphone und wählte einen Titel von ihrer beider Lieblingsband, The Cranberries. Doch dieses Mal ertönten nicht die aggressiven Klänge, keine Zombies in seinem Kopf.

«We used to be so free
We were living for the love we had»

Ja, dachte Lev mit einem Lächeln, etwas war anders.

«Wir waren immer so frei
und lebten für die Liebe, die wir hatten»

Da gab es dieses aufgeweckte und hübsche Mädchen mit dieser beeindruckenden Lebensenergie und, was ihn am meisten berührte, einem sehr grossen Herzen. Und sie sah ihn, den Jungen, den er so lange nicht sehen konnte.  

***

Erinnerst du dich an den Einstieg in die Geschichte von Jeri? Blättere nach in «Wurzeln und Flügel»

Und natürlich in «Jeri und Lev»

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Ich hatte Angst, diese Geschichte zu schreiben, Angst davor, der Magie, die ich spüren konnte, nicht gerecht zu werden. Ich hatte Angst, mich mit meinen Worten in dem zu zeigen, was ich als so gross wahrnahm. Diese Geschichte widme ich jenen Menschen, die immer wieder den Mut aufbringen, sich dem Leben zu öffnen und sich auf dieses einzulassen - und mich gelehrt haben, es ihnen gleichzutun.

 

Mit Textzeilen aus den Liedern «Zombie» und «Just My Imagination» von Dolores O’Riordan von The Cranberries

 

Copyright © 2022/2023 Pascal Leresche, Uster

 

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